Ich habe es in 39 Jahren meines Lebens geschafft auf meinen zahlreichen Reisen in den Süden auf der A2 am Lago Maggiore einfach vorbeizufahren. Ascona war für mich ein Auto für Rentner, Locarno habe ich regelmäßig mit Lugano verwechselt und zum Lago Maggiore fiel mir nicht viel mehr als ein uralter, nervender Schlager „Amore, Amore am Lago Maggiore“ von Vico Torriani ein. Bis zu diesem Tag im Februar der, einige Monate vor meinem 40. Geburtstag, mein Leben verändern sollte.

Es war ein Zufall. Meine damalige langjährige Lebenspartnerin und ich planten gemeinsame Dreharbeiten in Orbassano bei Turin für die ich das Drehbuch geschrieben hatte. Sie hatte die Produktionsleitung für einen Beitrag der in Selstat im Elsass hergestellt wurde. Für sie bot es sich nicht an über unseren Wohnort Konstanz am Bodensee anzureisen, für mich nicht sie im Elsass abzuholen. Irgendwo in der Schweiz könnte man sich treffen, so die vage Verabredung. Nach Studium der Straßenkarte für meine Anreise und des Zugfahrplanes über Basel für ihre Anreise kam ich auf Bellinzona als geeigneten Treffpunkt.

Bellinzona war für mich bis dahin eine Raststätte kurz nachdem es mehr Verkehr auf der Autobahn gibt, weil die Gotthard- und die San Bernardino-Route dort zusammen treffen. Bellinzona hatte also auch einen Bahnhof – nun gut.

Ich war gerade im Schneetreiben bei Medels vor dem San Bernardino Tunnel als mein Handy klingelte. „Szene nachdrehen, gut. Übernächster Zug. Bis dann.“ Über drei Stunden warten – na prima und das bei diesem Sauwetter!“. Die Fahrbahn im Tunnel wurde schnell trocken, der Interwall am Scheibenwischer langsamer. Nach einer langgezogenen Linksbiegung wurde es hell. Kurze Zeit später blendete mich das Licht der Sonne und ich ging vom Gas. Mit jedem Tropfen der an meiner Windschutzscheibe abtrocknete wurde meine Laune besser. Grandios – und das Ende Februar!

Ich drückte das melancholische Stück auf der CD weg. Verdammt! Das war Bellinzona Nord. Verpasst. Die nächste raus. Erst mal orientieren: „Locarno, Lago Maggiore“. Lago Maggiore? Hört sich doch gar nicht so schlecht an für die nächsten drei Stunden.

Das Filmfest von Locarno war mir natürlich ein Begriff, aber da ich Festivals eher meide, weil ich das affige Getue nicht mag, war auch dies bislang kein Anlass an dieser Ausfahrt die Straße nach Milano zu verlassen.

Nun fuhr ich in Locarno also geradewegs auf den See zu und habe unverhofft mitten im Winter den Frühling gefunden.

Erst mal Kaffetrinken, dachte ich. Als ich so ahnungslos über die Piazza Grande stolperte freute ich mich über die geöffneten Straßenkaffes. Ich legte meine dicke Winterjacke über die Stuhllehne. „Buon giorno, una aqua minerale sin gas e espresso … Grazie“. Er schmeckte ausgezeichnet. Wieso kriegt in Deutschland eigentlich niemand den Espresso so gekocht wie hier „in Italien“? Ich streckte die Beine aus und drehte den Kopf zur Sonne.

Da befiehl mich ein simpler und für mein Leben doch revolutionärer Gedanke: Wieso sitzt du eigentlich tagein tagaus in deinem Büro um deine Drehbücher zu schreiben, wo du hier jetzt genauso gut deinen Laptop auspacken könntest? Es gab darauf keine einleuchtende Antwort. Ganz im Gegenteil, es drängten sich viele Gründe dagegen auf: Dort läuten Telefone und Leute aus Redaktion, Produktion, Regie oder Buchhaltung platzen mit ihren Problemen und Problemchen ständig in meine Geschichten.

Und vom Hormonschub der Frühlingssonne beflügelt fasste ich bei einem Espresso auf der Piazza Grande, Ende Februar am Scheitelpunkt zwischen zwei Lebenshälften einen befreienden Beschluss: Ich arbeite künftig dort, wo ich hinter meinem Laptop die Augen gegen das Sonnenlicht zukneifen muss. Bei einem hervorragenden Espresso.

Seit diesem Espresso vagabundiere ich tage- und wochenweise durch halb Europa und sitze mit meinem Laptop und WLan auf Terrassen in den Bergen Vorarlbergs vor meinem dortigen Ferienhaus, in der französischen Aquitaine, dem Languedoc, der Provence, auf Sizlien, in der Toskana, in Andalusien oder auf einem Balkon über Barcelona. Und ganz besonders häufig im Verzascatal, Valmaggia, Centovalli oder Valle Onsernone oder irgendwo zwischen Tenero und Brissago am Lago Maggiore oder auch stundenlang auf einem Mäuerchen auf Isola di Brissago, wo ich längst als Freund der Insel freien Eintritt genieße.

Ich döste zufrieden in der Sonne und nach einem weiteren Espresso klingelte mein Handy: „Ich sitze in einem Straßencafe und trinke einen hervorragenden Espresso. Der schmeckt hier so gut wie in Italien … Im Ernst, hier scheint die Sonne und es hat 17 Grad! Doch, hier lässt es sich aushalten. … Du hast in Bellinzona direkten Anschluss an eine Regionalbahn hier her … Ich sitze an einem großen Platz in Lu… ähh Locarno… was? … Keine Ahnung wie der heißt…“

 

(foto Christof Sonderegger)